Heimweh
- Esther Jörgensen

- vor 1 Tag
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Eine Rückkehrgeschichte nach Sylt.
Von Esther Jörgensen. Erschienen im Magazin: „Sylt, die schönsten Seiten der Insel“ 2025
„Der Wind trug mich über den Deich. Ich war frei, war unterwegs, der Sehnsucht entgegen. Doch irgendwann wurde mir klar: Nicht jeder Aufbruch führt ins Weite. Manch einer führt zurück – zu dem Ort, der dich einst gehen ließ, aber immer bei dir blieb.“

Ich wurde Anfang der 90er Jahre in einer Mittsommernacht in der Nordseeklinik auf Sylt geboren. Meine Kindheit verbrachte ich in Alt-Westerland – zwischen Dünen und Drachen. Ich ging in den NordkampKindergarten, tanzte zum Petritag den „Danz op de Deel“, liebte das Biikebrennen und sammelte Erinnerungen in Strandkörben – mit Blick auf die schönsten Sonnenuntergänge über der Nordsee. Meine Jugend war geprägt von salzigen Haaren, langen Sylter Sommern und Tagen am Strand. 2010 machte ich mein Abitur und spürte: Die Insel wurde mir zu klein. Ich hatte Sehnsucht. Nach mehr Welt, mehr Möglichkeiten, mehr Weite. Also zog ich nach Hamburg. Ich studierte Kommunikationsdesign, arbeitete in renommierten Agenturen, wurde Art Direktorin, leitete Kreativteams. Ich hatte alles, was ich mir vorgenommen hatte – und doch: etwas fehlte. Freiheit. Tiefe. Luft zum Atmen.
Sehn·sucht
Substantiv, feminin [die]
Ein tiefes inneres Verlangen nach etwas, das fehlt – greifbar oder unbestimmt. Sehnsucht beschreibt das stille Gefühl, dass etwas außerhalb der eigenen Reichweite das Herz berührt.
Ich spürte, dass da mehr sein muss als Deadlines und der tägliche Blick auf den Bildschirm. Die Geschwindigkeit der Großstadt wurde mir zu viel. Ich sehnte mich nach echten Momenten. Nach Geschichten, nach Abenteuern, Sonnenaufgängen und einem Blick in die Weite. Dann kam diese eine Reise, die alles veränderte: eine Charity-Rallye – die Baltic Sea Circle – einmal um die Ostsee, durch Nordeuropa, in einem 20 Jahre alten VW T4, den ich liebevoll „Armadillo“ nannte. Als Team „Nordfriesenmädchen“ fuhren wir entlang der Seen in Schweden, über die Brücken der Lofoten, verbrachten Mittsommernächte unter freiem Himmel und folgten rauen Straßen bis zum Nordkap. Es war wild. Und wunderschön. Und plötzlich wusste ich, wie sich echte Freiheit anfühlt. Und ich wusste: Dieses Gefühl darf kein einmaliger Moment bleiben. Es sollte ein Teil meines Lebens werden.
Fern•weh
Substantiv, Neutrum [das]
Die Sehnsucht nach der Ferne, nach dem Unbekannten. Ein innerer Ruf, neue Orte zu entdecken – getragen von Neugier, Weite und dem Wunsch nach Aufbruch.
Also kündigte ich. Machte mich selbstständig. Und begann mit „Armadillo“ als digitale Nomadin durch Europa zu reisen. Immer dem Licht entgegen, dem Meer ganz nah. Drei Monate Italien mit Dachzelt wurden zu der schönsten Zeit meines Lebens – und Sizilien zu meiner Lieblingsinsel. Gleich nach Sylt, natürlich. Die Reisen wurden länger, das Leben langsamer – und doch aufregender. Dieses Gefühl, nicht zu wissen, wo man abends landet oder morgens aufwacht. Wo geht heute die Sonne auf? Was macht das Licht mit der Landschaft? Ich lernte, dem Leben zu vertrauen und loszulassen. Ich reiste durch Italien, Spanien, Frankreich und Portugal. Auf dem Weg verlor ich in Portugal ein Stück meines Herzens. Zwischen Bacalhau, Vinho Verde und dem Rauschen des Atlantiks wurde das Land zu meiner zweiten Heimat. Lissabon, meine Lieblingsstadt. Die Algarve. Pastel de Nata, Fado, warme Felsen unter nackten Füßen.
Wan·der·lust
Substantiv, feminin [die]
Ein starker Drang zu reisen – besonders in die Natur oder in unbekannte Gegenden. Wanderlust beschreibt die Lust am Erkunden, die Neugier auf das Fremde und den Wunsch, sich immer wieder auf neue Abenteuer einzulassen.
Das Meer war immer bei mir. Meine Füße im Wasser, die Zehen im Sand. Doch es begann die Zeit, in der sich etwas nicht mehr richtig angefühlt hat. Der Sand war nicht der, auf dem ich jedes Körnchen kannte. Die Dünen gaben mir keinen Schutz. Die Luft war nicht die, die ich als Kind geatmet hatte. Die Wellen waren nicht meine Wellen. Und so begann es leise in mir zu flüstern: Das ist nicht mehr meine Geschichte. Ein Gefühl breitete sich aus, das ich bis dahin nicht kannte. Nicht Fernweh. Nicht Abenteuerlust. Heimweh. Ich hatte Heimweh. Nach Sturm. Nach Stille. Nach salziger Luft. Nach dem Rhythmus der Gezeiten. Nach Sylt. Nach mir.
Heim•weh
Substantiv, Neutrum [das]
Sehnsüchtiger Wunsch, zurück nach Hause oder in die Heimat zu kehren. Ein Gefühl von Vermissen, das entsteht, wenn das Vertraute fern ist – Menschen, Orte, Geborgenheit.
Ich bin losgezogen – als Freigeist, mit einem offenen Herzen für die Welt. Habe in anderen Ländern gelebt, ferne Städte erkundet, meinen Horizont erweitert. Bin meinen inneren Stimmen gefolgt, habe Freiheit gesucht und auch gefunden. Bis das Fernweh stiller wurde. Und das Heimweh lauter. Nach dem Salz in der Luft. Dem Rauschen der Wellen. Nach dieser stillen Vertrautheit, die nur Sylt hat. Weil Sylt meine Heimat ist. Nach Freundschaften, die bleiben, auch wenn man lange weg war. Wenn beste Freunde heiraten, Eltern werden, das Leben in großen Schritten weitergeht. Und man merkt, dass man diese besonderen Zeiten nicht verpassen will. Ich habe gespürt: Mein Lebensmittelpunkt liegt genau hier – auf dieser Insel. Weil ich als Patentante, Freundin, Tochter nicht fehlen möchte. Und beruflich, weil ich hier etwas aufbauen kann. Als Fotografin. Als Designerin. Mit Gespür für die Insel und einem Blick voller Erfahrung für das, was Menschen und Marken ausmacht.
Hei•mat
Substantiv, feminin [die]
Ein Ort oder ein Gefühl tiefer Verbundenheit. Heimat ist da, wo alles vertraut scheint, Erinnerungen wurzeln – und das Herz ruhig wird.
Seit anderthalb Jahren bin ich wieder hier – zurück auf meiner Insel, zurück in meinem eigenen Rhythmus. Die Tage folgen den Gezeiten, das Licht verändert sich. Ich lerne, mit der Insel zu leben. Mit meiner Kamera in der Hand entdecke ich sie neu, baue ich mir ein Leben auf, Schritt für Schritt. Oft holen mich Kindheitserinnerungen ein. Und plötzlich ist da dieses warme Gefühl: Vertrautheit, Geborgenheit, Liebe. Wenn ich im Sand liege und die Sommerhitze über den weißen Strand flimmert. Wenn ich im Meer bade bis die Haut schrumpelt. So wie früher. Nur heute bleibe ich, bis die Sonne untergeht. Ich tauche unter, halte die Luft an, genieße die schwere Stille, die nur unter Wasser existiert. Und wenn ich abends mit brennenden Augen, salziger Haut und sandigen Füßen sonnenmüde ins Bett falle, weiß ich: Das ist der Sommer auf Sylt.
Und im Winter? Wenn die Saison vorbei ist und der Wind über die leeren Strände fegt, kehrt eine andere Ruhe ein. Wie viele Insulaner spüre ich nach dem Jahreswechsel die Sehnsucht nach Licht und Wärme und folge ihr für einen Moment in die Ferne. Aber spätestens Mitte Februar zieht es mich zurück. Pünktlich zum Biikebrennen. Wenn sich der Ort versammelt, der Matsch unter den Stiefeln klebt und die ersten Fackeln entzündet werden. Dann singe ich leise die erste Strophe von „Üs Söl’ring Lön“ – textsicher wie damals in der zweiten Klasse der Nordkampschule. Und wenn ich meine Fackel ins Feuer werfe, wünsche ich mir still etwas für das neue Jahr.
Ich kehrte zurück an einen Ort, der mir vertraut war und doch neu erschien. Mich hier wiederzufinden, auf meiner Heimatinsel, ist ein leiser, aber tiefer Prozess. Oft wurde mir gesagt, ich sei mutig. Selbstständigkeit, Reisen, Leben im Bus, mit all der Ungewissheit, die dazugehört. Aber der mutigste Schritt in meinem Leben war nicht das Gehen. Es war das Zurückkommen. Und ich bin dankbar. Für all die Erfahrungen, das Licht, den Wind, die weiten Straßen. Denn sie haben mich genau hierhin geführt – und heute weiß ich: Die Insel ist mehr als nur ein Ort. Sie ist ein Teil von mir. Sie ist mein Zuhause.


















































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